Bensheims Straßen sind eben so,'

Eine vergnügliche Plauderei über einen Dauerzustand / Von Diether Blüm

 

  

Bensheim. Wenn in diesen Tagen - beispielsweise - ein frisch vermähltes Ehepaar aus Zwingenberg per Auto der Tante in Bensheim seine Aufwartung machen möchte, so kann es den beiden unter Umständen passieren, - wenn es überhaupt noch zu Lebzeiten den Bensheimer Marktplatz erreicht -, daß es bei der Ankunft dort gleich das Fest der silbernen Hochzeit begehen kann. So behaupten wenigstens böse Zungen. Natürlich ist das ganz leicht übertrieben, aber ein Körnchen Wahrheit steckt schon in dieser bissigen Bemerkung

Die ewige Misere unserer Stadt, nämlich die permanent aufgerissenen Straßen - und natürlich die dazugehörigen Umleitungen haben nicht nur Scharen von Bensheimer Karnevalisten, sondern auch ganze Generationen unserer Vorfahren beschäftigt. Beim Studium der alten Urkundenbände des Stadtarchivs kommt man nämlich bald zu der Erkenntnis, daß die Straßenzustände in und um Bensheim keineswegs eine Erfindung unserer heutigen Stadtverwaltung, sondern offenbar eine Erbkrankheit Bensheims sind. Freilich haben es die Stadtväter heute besser- Während früher von der hohen Obrigkeit nur ein einzelner für die Misere zur Verantwortung gezogen werden konnte, kann man heute den Schwarzen Peter ganz bequem zwischen den Parteien hin- und herschieben. Und im Hinblick auf die Wahlen, die ja zum Glück immer wieder fällig sind, wird diese Möglichkeit sehr ausgiebig genutzt.

Aber noch ein weiterer Unterschied zwischen früher und heute ist bemerkenswert: innerhalb der Stadtmauern sorgte man zwar für die nötigsten Reparaturen, aber der Straßenzustand vor den Toren bedrückte die Stadtväter in keiner Weise. Gewiß, bisweilen tat man in dieser Hinsicht auch außerhalb der Stadt etwas, aber nur dann, wenn dies unmittelbar die Interessen der Bürger berührte. Der alte Viehweg zum Beispiel - der südliche Teil der Rodensteinstraße - wurde immer in gutem Zustand gehalten, denn irgenwie mußten die Bauern ja aufs - Feld kommen. Auch die Brücke am Gauchsnest" (auch .Geisnest" geschrieben) wurde Immer in gutem Stand gehalten. Diese Flur liegt westlich der Straße nach Schwanheim, etwa da, wo heute der Bergsträßer Anzeiger gedruckt wird. Obwohl diese Straße ein uralter Handelsweg ist, kann man unterstellen daß die Unterhaltung einer Brücke, die wohl über einen Graben führte, doch mehr in kommunalem Interesse lag.

Aber ansonsten tat sich nichts. Warum auch? Im Norden und Osten grenzte Bensheim ja an ,Ausland", und man war gar nicht scharf drauf, den Reisenden dorthin eine möglichst bequeme Straße zu bieten. Mochten sie halt in Bensheim bleiben und hier ihre Geschäft abwickeln. Dabei vergaß man leider, daß die Stadt ihren Wohlstand nicht zuletzt den beiden alten Handelsstraßen, die Bensheim durchkreuzen, zu verdanken hat: der Bergstraße und der Nibelungenstraße. Nun, den Ulmer Kaufleuten blieb eben nichts anderes übrig, als durch Bensheim zu fahren, wenn sie zweimal im Jahr zur Frankfurter Messe wollten. Und wenn ihre Fuhrwerke dank der weitberüchtigten Bensheimer Straßen einen Achsenbruch bekamen, um so besser! Dann hatten die hiesigen Wagner keinen Mangel an Aufträgen, und die einheimischen Gasthäuser, deren Ruf übrigens weitaus besser war als der unserer Straßen, waren stets voll belegt.

Möglicherweise waren diese beiden großen Handelsstraßen irgendwann einmal gepflastert worden. Aber für ihre Unterhaltung fühlte sich offenbar kein Mensch zuständig. Durch Unwetterkatastrophen wurden sie im Lauf der Zeit mit Schutt und Geröll bedeckt, doch niemand kam auf die Idee, die angeschwemmten Erdmassen wegzuräurnen. Bisweilen hatte diese Schlamperei allerdings auch ihre guten Seiten: 1768 entdeckte man bei einer Fronarbeit zwischen der Ziegelbrücke (wo der Winkelbach beim Parktheater unter der B 3 durchfließt) und dem Anfang des Hohenwegs (wo der war, kann nicht genau gesagt werden, denn viele der alten Handelsstraßen wurden früher als Hoher Weg oder Hohe Straße" bezeichnet) rein zufällig ein über 50 Jahre lang durch Schutt und Erdansammlungen verschüttet gewiesenes altes Pflaster (E 15/52).

Dieser Fund kam für die Stadtväter gerade zur rechten Zeit. Pflastersteine waren damals knapp und teuer, außerdem mußten sie aus dem Ausland, nämlich von Schönberg, bezogen werden. Deshalb wurde der Pflasterer Georg Fasser eilig beauftragt, mit diesen Steinen ein Stück der neuen Chaussee zwischen Bensheim und Auerbach zu pflastern. Um 1740 hatte nämlich die Regierung in Mainz damit begannen, diese Straße in einen befahrbaren Zustand zu setzen. Die Tatsache, daß ein Offizier, nämlich der Leutnant Jäger diese Bauarbeiten leitete (E 16/870), weist' auf den militärischen Charakter dieses Unternehmens hin. Offenbar hatte der Kurfürst *die Bedeutung dieser Straße erkannt, und unter- dieser Erkenntnis hatte Bensheim in der Folge schwer zu leiden. Chausseefronen wurden angeordnet, d. h. die Bensheimer mußten umsonst für die Regierung arbeiten, , und die Stadt hatte außerdem gratis das Pflastermaterial zu stellen. Allein zwischen den Jahren. 1747 und 1776 kostete als die Stadt die ungeheure Stimme von 4956 Gulden und 10 Kreuzer. Zudem hatten die Stadtväter auch noch ihre Last mit den - Fronarbeitern denn wer schuftet schon gerne für die Regierung, und dazu noch ohne Bezahlungl

Der Straßenzustandsbericht den 1772 das Amt nach Mainz schickte, war durchaus nicht erfreulich: Die Straße von Heidelberg nach Frankfurt ist als Chaussee angelegt und jeder Zeit befahrbar. . Die Straße von hier über Lorsch nach Mannheim und die Straße nach Gernsheim durch das sogenannte Geisnest sind im Sommer, wenn der Boden hart ist, gut befahrbar; vorn Spätjahr ab ist dies wegen des lehmigen Untergrundes unmöglich. (E 15/797).

Was hier die Stadtväter über die Bergstraße aussagen, entsprach keineswegs den Tatsachen. Deren miserabler Zustand war immer noch in ganz Deutschland berüchtigt- Fuhrleute aus allen Himmelsrichtungen und aus aller Herren Ländern taten sich schließlich zusammen und richteten einen Beschwerdebrief an die Stadt, den sie alle gemeinsam unterschrieben.

Allein die Beschwerden über den bösen Weg uff Schönberg" ziehen sich ab 1534 wie ein roter Faden durch alle Protokolle bis ins 19. Jahrhundert. Die Stadtväter störte das aber nicht im geringsten. Und wenn die Müller des Schönberger Tals - soweit ihre Mühlen auf Bensheimer Gebiet lagen und daher zu einer Beschwerde eine gewisse Berechtigung vorlag - ihrem Ärger über den schlechten Straßenzustand Luft machten, war das durchaus kein Grund, sich auf dem Bensheimer Rathaus deswegen aufzuregen. Da die Müller ja außerhalb der Stadtmauer wohnten, waren sie fronfrei, und wenn die übrigen Bürger für Ihre Kurfüstliche Gnaden gratis Blut und Wasser schwitzten, brauchten die Müller keinen Finger krumm zu machen. Sollen die Herren doch ihre Straßen selbst herrichten wenn sie ihnen nicht gut genug istl

Nun, das taten die Müller auch, freilich auf eine Art, die ihnen großen Vorteil brachte, der Stadt aber sehr zum Schaden gereichte. Doch es dauerte ziemlich lange, bis die Herren im Rathaus hinter die Schliche der Müller kamen. Diese hatten nämlich die Pflicht, den Mühlgraben, der damals entlang der Südseite unserer heutigen Nibelungenstraße in die Stadt floß und die Mühlen im Schönberger Tat und die Stadtmühle mit seinem Wasserantrieb stets in gutem Zustand zu halten, und das taten die gerissenen Müller lange Zeit hindurch auf eine ganz raffinierte Art und Weise: Die Schlamm- und Erdmassen, die beim Reinigen des Grabens anfielen, schaufelten sie brav auf die südliche Uferseite, die an ihren Besitz grenzte. Wurde dadurch der Graben im Lauf der , Jahre immer schmaler, war das kein Grund zur Besorgnis; das gegenüberliegende Ufer an der Straße wurde einfach abgestochen. So wurden mit der Zeit die Grundstücke der Müller Immer größer, und die Breite der Straße nahm in gleichem Maße ab. Im Rathaus merkte das natürlich kein Mensch. Und dabei handelte ' es sich bei dem bösen Weg" immerhin um eine Zollstraße, deren Verkehrswert schon mit dem unserer B 47 g!eichzusetzen ist (E 15/303).

Erst im Jahre 1804 kam der Bachmeister Supp, ein ausgedienter Artillerie-Korporal, der in städtische Dienste getreten war - und sich, nebenbei bemerkt, sehr verdient machte hinter die Praktiken der Müller, und es erfolgte eine geharnischte Anzeige beim Stadtrat. Das ließ indes die betroffenen Müller Harsch, Heckmann und Ritz völlig kalt, und sie dachten nicht im Traum daran, den sauer erworbenen Besitz freiwillig wieder herauszugeben. Warum sollten sie auch Grund und Boden, den zum Teil schon ihre Vorfahren im Schweiße ihres Angesichtes. erarbeitet hatten, ohne jegliche Bezahlung an die Stadt abtreten, nur weil so ein hereingeschneiter Bachmeister zufällig dahinter gekommen war, daß die Straße nach Schönberg inzwischen so schmal geworden war, daß kaum noch ein Fuhrwerk darauf fahren konnte, . ohne Gefahr zu laufen, in den Mühlgraben zu kippen? Doch da die Stadt Bensheim seit jeher gerne Prozesse führte, ließ sie es darauf ankommen., Und siehe da- Diesmal gewann die Stadt sogar (E 24/660, E 24a/28, 53 ff).

 

Nun, heute fließt neben der Nibelungenstraße schon lange nicht mehr der Mühlgraben. Auch die alten Mühlen sind nicht mehr in Betrieb, und die Nachkommen jenes Müllers Heckmann betreiben heute ein Weinlokal mit bestem Renommee. Sie sind auf Gebietserweiterungen - wenigstens auf solche, wie sie einst die Vorfahren betrieben - durchaus nicht mehr angewiesen.

Freilich, die Klagen über den Zustand dieser Straße waren bis in die jüngste Zeit noch nicht verstummt, als man (wieder einmal) das Pflaster aufriß und Kanalrohre verlegte. Aber da man im Rathaus während vieler Jahrhunderte genügend Gelegenheit hatte, sich an solche Beschwerden zu gewöhnen, dürfte auch heute jedes Lamento zwecklos sein, falls nicht gerade Wahlen vor der Tür stehen.

Die Bensheimer Stadtväter scheinen in solchen Fällen "seit unvordenklichen Zeiten", wie es immer so schön heißt, statt der Trommelfelle Hornhaut in den Ohren zu haben. Genau wie beispielsweise Anno 1801. Da hatte sich doch der Zollbereiter des Oberamts Starkenburg, also ein ziemlich hohes Tier, unterstanden, beim Kurfürst in Mainz eine Beschwerde einzureichen, weil die Straßen vor den Bensheimer Toren aus lauter Löchern bestünden. Und dafür erhebe die Stadt auch noch Pflastergeld Sein langer Beschwerdebrief endete mit der fürchterlichen Drohung: Zur Zeit würden die Güterfuhrleute noch über die Stadt Bensheim lamentieren, seufzen, fluchen', schwören, sacramentieren und schimpfen, aber bald kommt die Zeit, wo sie auch über Ihro Kurfürstliche Gnaden selbst anfangen werden zu fluchen! (E 22a/496).

Das waren natürlich schreckliche Zukunftsaussichten für einen Landesherrn auch wenn er nicht durch freie Wahlen zu Amt und Würden gekommen war und sich daher um die

Volksmeinung einen Dreck zu scheren brauchte. Doch hatten Ihre Gnaden im Augenblick wahrhaftig größere Sorgen, denn die Franzosen hatten Mainz besetzt und den Kurfürst zwar nicht zum Teufel, aber doch ins Exil gejagt. Dennoch schien dem hohen Herrn der Beschwerdebrief des Zollbereiters Neumann so wichtig, daß er ihn nicht in seinen Papierkorb, sondern an die zuständigen Stellen in Bensheim weiterleitete. Sollen die dort doch selbst zusehen, wie sie mit Ihrer ewigen Straßenmisere fertig werden

Du liebe Zeit, wie' oft schon hatten Ihre Hochwürden, der Herr Erzbischof und Kurfürst von Mainz, seine Bensheimer Untertanen gebeten, wenigstens die Straße innerhalb der Stadtmauern in Ordnung zu bringen. Und jedes Mal erhielt er seitenlange Antwortschreiben, voll mit faulen Ausreden und leeren Versprechungen Wie lange hatte es damals, Anno 1784, denn gedauert, bis sich die Bensheimer endlich dazu bequemten, wenigstens das Pflaster der (heutigen) Hauptstraße instand zu setzen! Der einheimische Pflasterer Johann Grün hätte die Arbeit ja gern ausgeführt, aber da ja die Bensheimer Stadtväter seit jeher auswärtige Unternehmen bevorzugen, mußten Pflästerer aus Dieburg kommen. Nun, dem Johann Grün hat man wenigstens' gnädigst erlaubt, den Dieburgern zu helfen. (E 21/264, 449).

Aber dann stockte der Straßenbau in Bensheim für einige Zeit. Für die Stadt kamen die schlimmen Jahre ab 1872, denn die Französische Revolution ging auch an unseren Mauern nicht spurlos vorüber. Aber das wäre 'für Bensheim nicht in dem Maße von Nachteil gewesen, wenn an der Spitze ein anderer Mann gestanden hätte als der Ratsschultheiß Adolph Ferrari. Dessen Vater Josef war ein tüchtiger Handelsmann gewesen. Er hatte der Stadt, die Fleischschrannen - das heutige Haus Fleck abgekauft und im Erdgeschoß sein Geschäft etabliert. An der Hausecke brachte er die Figur seines Namenspatrons, des heiligen Josef, an, und ließ auf dem Podest, auf dem die Statue steht, die Inschrift Bitt für uns o Heiliger loseph 1753" anbringen.

Lag es nun an seinem Fleiß oder an der erhörten Fürbitte: Der alte Ferrari brachte es in Bensheim zu Amt und Würden. Als aber sein Sohn Adolph Bensheimer Stadtschultheiß geworden war, hatte Sankt Josef ein Einsehen, oder betrachtete er das Bittgebet zu seinen Füßen als verjährt? -Jedenfalls 'bezog er es von da ab immer mehr auf die Stadt Bensheim, die es bitter nötig hatte. Der Heilige sorgte offenbar dafür, daß dem ewig betrunkenen Ratsschultheißen und seinen Ratsherren, von denen der eine den anderen im bezug auf Gaunereien zu übertreffen suchte, ein Amts.vogt in der Person des Geheimen Herrn Hofgerichtsrats Franz Ludwig Casimir Reatz vor die Nase gesetzt wurde.

Dieser himmlischer Fügung hatten die Bensheimer Bürger zwar die Wege geebnet indem sie die ganze Führungsspitze, angefangen bei , den sauberer Ratsherren samt dem Schultheiß bis hin zun Amtsvogt Beißler kurzerhand zum Teufel gejagt hatten, denn die Praktiken, mit denen diese Herren die Stadt regierten, gingen den Bürgern schließlich doch über die Hutschnur.

Daß bei diesem Mini-Revolutiönchen auch einige ,ungesetzliche Dinge passierten, steh auf einem anderen Blatt. Ihre Ratsherren und den Schultheiß Ferrari waren die Bensheimer wenigstens für eine Zeit lang los, aber der Amtsvogt Beißler mußte endgültig seinen Hut nehmen. Sein Nachfolger wurde eben jener Amtsvogt Reatz. Er brachte ein umfangreiche Fachwissen mit und war auch auf anderen allen möglichen Gebieten wie Handel und Landwirtschaft bestens beschlagen. Sein offener, gerader Charakter bewog ihn, auch gegenüber seinen Feinden Fairneß zu bewahren Und Widersacher hatte er genügend in Bensheim, denn er versuchte immer wieder, den Augiasstall im Rathaus auszumisten, was ihn auch in den meisten Fällen gelang, denn Reatz war obendrein sehr clever.

Mit der Mainzer Regierung tat er sich nicht schwer, denn die hatte, wie , erwähnt, in Augenblick andere Sorgen. Aber als Bensheim 1802 hessen-darmstädtisch wurde, konnte er mit seinen Tricks nicht immer bei den landgräflichen Beamten landen Denn ganz so dumm, wie sie der Amtsvogt manchmal im Interesse Bensheirns einschätzte, waren die Herren in Darmstadt nur bisweilen. Vor aller dann, wenn es um die alten Kurmainzer Gesetze ging, die ja für Bensheim bis dato maß gebend gewesen waren. Die Darmstädter Regierung zeigte hierin eine erschreckende und auch unbegreifliche Unkenntnis, die der Amtsvogt stets zum Nutzen und Vorteil Bensheim auszunutzen wußte, In seitenlangen Briefen klärte er die nette Regierung über altes Her kommen, Recht, Gerechtsame und Brauchtum Bensheims auf, so daß man sich über die Zeit während der Bensheim kurmainzisch war heute eigentlich erst ein richtiges Bild machen kann, wenn man den Schriftwechsel zwischen dem ' Amtsvogt und seinen Vorgesetzten in Darmstadt studiert hat. Das fällt sehr leicht denn Reatz . hatte eine sehr schöne, Handschrift.

Bequem hatte er es in Bensheim freilich nicht. Wie oft deckte er die Fehler und Nachlässigkeiten 'der Stadtverwaltung gegenüber der, Regierung Er scheute sich dabei nicht bisweilen auch einmal ins Fettnäpfchen zu treten und manches Donnerwetter" aus Darmstadt ging auf sein Haupt nieder, obwohl es von Rechts wegen den Stadtrat hätte treffen müssen! Dank erntete er dafür freilich keinen. Die völlig untauglichen Subjekte", wie er die Rastherren gerne bezeichnete, warfen ihm einen Knüppel nach dem anderen zwischen die Beine. Aber Reatz trugs mit Fassung.. Die Herren in - Darmstadt waren natürlich schnell dahinter gekommen, wie es um die Bensheimer Straßen stand, und bald trafen die ersten höflichen Bitten um Reparatur auf der Bensheimer Amtsvogtei ein. Zum Glück hatte inzwischen der Pflasterer Zilch aus Klein-Krotzenburg um die Bürgeraufnahme in Bensheim nachgesucht, die ihm unter der Bedingung, sich um das Bensheimer Pflaster zu kümmern, gewährt wurde. Zilch, der Vorfahre der Bensheimer Familie Zillig, besaß offenbar großes handwerkliches Können, denn schon bald wurde er von der Regierung damit beauftragt, in Darmstadt vor dem neuen Palais die Pflasterarbeiten auszuführen. Auch in Lorsch fand er schnell Arbeit, denn er war dahinter gekommen, daß in Bensheim mit seinem ewig leeren Stadtsäckel kein Reichtum zu erwerben war. Das paßte nun dem Amtsvogt Reatz überhaupt nicht in ' den Kram, denn aus Darmstadt kam schon der erste etwas strengere Rüffel: Was denn nun mit dem Bensheimer Pflaster wäre? Zilch habe sich in Darmstadt beklagt, es fehle ihm an Steinen! Da die Stadt ein so hohes Pflastergeld von den Durchreisenden kassiere, müsse die Regierung auf sofortiger Reparatur bestehen.

Aber Reatz war auch nicht auf den Kopf gefallen und schrieb postwendend nach Darmstadt, hier fehle es nicht an Pflastersteinen, sondern am Pflasterer! Dieser arbeite dauernd auswärts, und nur in den Wintermonaten, wo man sowieso nicht viel an den Straßen machen könne, würde er hier hie und da einen Stein auswechseln und leiste überdies noch eine miserable Arbeit. Offenbar war Reatz gerade von dem letzten Argument nicht so sehr überzeugt, denn anschließend lenkte er vom Thema ab und versuchte, der Regierung Brei ums Maul zu schmieren: Wie käme die Regierung überhaupt dazu, ihn so zu tadeln, man wisse offenbar nicht, was er schon alles während seiner Dienstzeit geleistet habe (Anmerkung. Der Brief wurde 1809 geschrieben). Erst vor zwei Jahren sei die schöne Straße vom Lorscher Tor (= Rinnentor) zur Mittelbrücke, vergangenes Jahr die Straße von der Mittelbrücke zum Odenwälder Tor (= Erbacher Straße) und in diesem Jahr die Straße vom Lorscher zum Heppenheirner Tor ganz neu angelegt worden Das sei doch ein Beweis, daß man hier an Kosten für den Straßenbau nicht spare!

Leider sind zur Zeit diese Angaben des Amtsvogts nicht nachprüfbar, da die Baumeister-Rechnungen aus diesen Jahren noch nicht durchforscht werden konnten. In den Ratsprotokollen ist jedenfalls nicht all das angegeben, was Reatz den Darrnstädtern erzählte. Aber völlig aus der Luft gegriffen wird er seine Angaben wohl nicht haben. (E 26a/546, 733, 7867). Dennoch dürfte an der Sache etwas faul gewesen sein, denn die Regierung verbot der Stadt plötzlich, das Pflastergeld weiterhin zu kassieren. Auf inständiges Bitten wurde das den Bensheimern schließlich wieder genehmigt, aber nun zeigte sich der Pflasterer Zilch stur und weigerte sich, für die Stadt zu arbeiten. Da kam er aber bei dem Amtsvogt an den verkehrten. Reatz erinnerte ihn daran, unter welcher Bedingung er überhaupt als Bürger angenommen worden war, und drohte ihm im Falle einer weiteren Arbeitsverweigerung die saftige Strafe von 10 Reichstalern an.

Das half. Es war aber auch höchste Zeit, denn in Darmstadt war inzwischen das Stimmungsbarorneter auf "Sturm" geklettert: In Bensheim hatte man zwar begonnen, die Straße durch die Stadt zu reparieren und sie von vorn bis hinten aufgerissen, aber an eins hatte man in der Eile nicht gedacht, nämlich an die nötige Umleitung. Es gab zwar eine - die heutige Rodensteinstraße -, aber in welchem Zustand war sie!

Ein Brief aus Darmstadt klärt uns darüber auf: Die Umleitung sei in ganz erbärmlichem Zustand und könne, nur mit größter Gefahr passiert werden. Durch verschiedene schwere Unfälle sehe man sich genötigt, der Stadt mit dem Entzug des Pflastergeldes zu drohen, zumal auch für andere Bergstraßen-Orte die Gefahr bestünde, daß die Fuhrleute eine andere ,Route nähmen. Daß die Regierung schließlich verlangte, binnen acht Tagen das Übel abzustellen, juckte die Bensheimer in keiner Weise. Derlei Drohungen war man längst gewöhnt. Aber ein Stichwort aus dem Regierungsbrief machte die Stadtväter hellhörig: andere Bergstraßen-Orte"! Von daher wehte also der Wind! Der Denunziant, der Bensheim so übel wollte, konnte doch nur der Besitzer der "Krone" zu Auerbach, der Gastwirt Guntrum, sein! Der fürchtete wohl, wegen der paar Meter Bensheimer Umleitung, auf denen man, wenn man lange suchte, vielleicht hie und da ein paar kleine Löcher finden konnte, würden die Fuhrleute übers Ried fahren und ihm ginge so manches Geschäft durch die Lappen!

 

Nebenbei bemerkt: Die Fuhrleute nahmen dennoch die Gefahren der Bensheimer Umleitung auf sich, weigerten sich aber, Pflastergeld zu zahlen. Doch sie zogen immer den kürzeren. Wer nicht zahlte, wurde eingelocht. Wenns ums Geld ging, waren die Bensheimer immer die schnelleren! Einmal gelang es zwar einem Fuhrmann, trotz eines Radbruchs bis dicht an die Heppenheirner Grenze zu entkommen, aber dort holten ihn die Stadtwachen doch noch ein! Bisweilen versuchten die Fuhrleute auch, die Bensheimer Zollstelle, wo das Pflastergeld erhoben wurde, zu umgehen - das geschah damals im Gasthaus Zum Weißen Roß am Ritterplatz, indem sie von Darmstadt kommend den Ziegelhütter Weg (gegenüber der evangelischen Kirche) hinunter fuhren. Aber solche Tricks fruchteten bei den Bensheimern nichts.

Doch zurück zu dem Brief, den die Darmstädter Regierung gerade geschickt hatte. Reatz beantwortete ihn sehr nett und höflich: "Nicht alles Gute kann auf einmal geschafft werden! Die Stadt Bensheim hat bis jetzt weit mehr getan, als erwartet werden konnte. Im übrigen sind die Güterfuhrleute mehrere 100 Jahre und bis in die 1790er Jahre, ehe noch der zweite am Auerbacher Thor gestandene Thorbogen abgebrochen worden, um die Stadt herumgefahren, und sie sind bei weit schlechteren Wegen fortgekommen. Wenn einmal ein Fuhrmann - entweder, weil er betrunken oder ungeschickt war - umgeworfen hat, so ist dies noch lange kein Grund, daß der Weg schlecht sei, oder daß der Stadt deswegen das Pflastergeld entzogen werden könnte . . ."

Der Brief des Amtsvogts gipfelte mit dem Hinweis an die Regierung, man möchte doch nicht jedes Wort von Leuten,

die - o Schande - mit Stiefeln schlafen gingen, auf die Goldwaage legen Es gehören schon eine gewisse Portion Unverfrorenheit und ein sonniges Gemüt dazu, einen solchen Brief an die Regierung zu schicken. Doch mit beiden Eigenschaften war der Amtsvogt ausreichend gesegnet.

Der in dem Brief erwähnte zweite Turm vor dem Auerbacher Tor stand auf dem Bürgersteig nördlich vor dem Blumengeschäft Schauren am Ritterplatz. Die heutige Hauptstraße führte nämlich bis um 1800 nicht wie heute in gerader Richtung von der Dalberger Gasse nach Auerbach, sondern machte einen Bogen gegen die Ziegelhütte zu. Dieser äußere Torturm stand schon im Jahr 1504. In bisherigen Veröffentlichungen wurde er, ebenso wenig wie sein Gegenstück vor dem Heppenheimer Tor, noch nicht erwähnt, Merian hat ihn auf seinem Stich auch nicht festgehalten, aber ein Bild von diesem Turm gibt es dennoch. Er wurde abgebrochen, als der Zimmermann Süßbeck kurz vor dem Jahr 1800 jene Häuser am Ritterplatz erbaute, die bis 1945, wo sie zerbombt wurden, die Weinhandlung Guntrum beherbergten.

Nach diesen Hinweisen wieder zurück zu dem Antwortschreiben des Amtsvogts. Er schreibt weiter, übrigens sei bis in 14 Tagen bis an das Heppenheirner Tor gepflastert, und er schmeichle sich, wegen dieser Arbeit vollkommenen Beifall zu erhalten, da .er dem Stadtpflaster eine ganz neue Richtung gegeben habe. (Anmerkung: Auch dort wurde, wie vor dem Auerbacher Tor, die Straße begradigt). Nach diesem Eigenlob beginnt Reatz der Regierung den Bart zu streicheln, lenkt sie

von den betrüblichen Straßenzuständen ab und landet schließlich bei seinem Lieblingsthema, der "heißgeliebten" Nachbarstadt Heppenheim. Dabei stammte der Amtsvogt, wie viele Bensheimer, die es hier zu Amt und Würden brachten, aus Mainz, und war sicher nicht durch die Gefühle, wie sie die eingesessenen Bensheimer von alters her der Nachbarstadt entgegenbrachten, erheblich vorbelastet. Aber offenbar hatte er sich während seiner Dienstzeit in Bensheim auch gefühlsmäßig voll akklimatisiert und hegte nun den bösen Verdacht, daß auch die Heppenheirner an den vielen Beschwerden, die über die Bensheimer Straßen, in Darrnstadt eingingen, nicht ganz schuldlos seien. Teils um die ewigen Querelen aus südlicher Richtung ein für alle Male auszuschalten und teils um den lieben Nachbarn eins auszuwischen, rät er der Regierung wieder einmal dringend, die Poststation von Heppenheim nach Bensheim zu verlegen. Der dortige Posthalter Werle sei unverschämt teuer, und die Bensheimer Boten würden die Briefe viel preiswerter besorgen.

Nun muß man bedenken, daß Hessen mit den Fürsten von Thurn und Taxis schon lange die Vereinbarung getroffen hatte, wonach der letztere das Postmonopol für das Gebiet, das der Darmstädter Regierung unterstand, erhalten hatte. Und was die Bensheimer Boten machten, war - um es ganz offen zu sagen - eine gesetzwidrige Schwarzarbeit, eine strafbare Handlung. Hier hatte der Amtsvogt weit übers Ziel geschossen. Die Bensheimer Botengänger waren ihren Nebenverdienst los, und der Anpfiff, den Reatz von Darmstadt bekam, war entsprechend. Aber auch in der Straßenbau-Angelegenheit ließen sich die Darmstädter nicht mit den billigen Tricks des Amtsvogts überfahren und schrieben: Man müsse sich doch sehr wundern, wie er, der Amtsvogt, des Stadtrats seichte und unbescheidene Entschuldigungen als Vorgesetzter hatte übernehmen und anhero schicken können! Bevor man angefangen hätte, die Straße durch die Stadt zu reparieren, hätte man den Notweg um die Stadt herstellen müssen.

Die Nachrichten über diesen schlechten Notweg beruhten nicht, wie sich der Stadtrat einbildete, auf einer Anzeige des Wirts Guntrum von Auerbach, sondern auf Beschwerden vieler Reisender, Fuhrleute, 'Zollbereiter und Regierungsglieder. Das saß! Aber kaum war die Hauptstraße hergestellt, traf schon wieder ein Beschwerdebrief aus Darmstadt ein: . .. . am Bensheimer Markt wohnen zwei Eisenhändler, welche die Straße derart mit ihren Waren garnieren, daß diese bis ans Floß reichen. Vor einigen Wochen stieß ein Fuhrmann einen eisernen Ofen um und wäre deswegen fast arrestiert worden, hätte sich nicht Herr Heckler für ihn eingesetzt. Ferner haben die an der Mittelbrücke wohnenden Bäcker an einem Platz, der kaum 12 Fuß breit ist, vor ihren Fenstern Bäckerläden von 2 Fuß Breite, worauf ihre Ware liegt. Die Fuhrleute kommen dadurch in größte Verlegenheit, denn es gehört große Geschicklichkeit dazu, über die Mittelbrücke zu fahren. Fallen aber einmal ein paar Wecke herunter, gibt es ein großes Geschrei.

Ja, man mußte schon starke Nerven haben, wenn man in Bensheim Amtsvogt war! Aber es sollte für den geplagten Reatz noch schlimmer kommen. Die Lieferung der Pflastersteine war vor längerer Zeit mit den beiden Schönbergern Hilz und Gölz vertraglich vereinbart worden, und Reatz hatte einen äußerst günstigen Preis ausgehandelt. Doch nun weigerten sich diese beiden "Ausländer" plötzlich, der Stadt weiterhin Pflastersteine zu liefern. Sie waren nämlich dahinter gekommen, daß in Bensheim Privatpersonen, die sich ein Haus bauen wollten, die Steine weitaus besser bezahlten als die Stadt, und da Hilz und Gölz mit dem Steinehauen ohnedies nicht nachkamen, machten sie halt das Kreuz zuerst mal über sich selbst. Reatz kam arg ins Schwitzen, denn die Briefe aus Darmstadt machten ihm das Leben sauer.

Hinzu kam noch, daß die Fuhrleute, die die Pflastersteine von Schönberg nach Bensheim brachten, sich plötzlich als sehr clevere Burschen erwiesen: Sie kauften die Steine bei Hilz und Gölz als Pflaster für die Stadt Bensheim und bezahlten sie entsprechend niedrig. Diese Fuhren verscherbelten sie hier an Private und zwischendurch lieferten sie auch einmal einen Wagen voll Steine bei dem Pflasterer Zilch ab, so daß die Sache gar nicht weiter auffiel. Aber am Ende herrschte sowohl in Schönberg als auch in Bensheim ein heilloses Durcheinander. Hilz und Gölz konnten schließlich nur noch Abfall für das Bensheimer Pflaster liefern, da ja die gut behauenen Steine an Baulustige verscheuert worden waren, und zu allem Unglück streikte der Pflästerer Zilch einmal wieder. Hatte dieser Bursche doch die Unverschämtheit, dem Ratsherrn Stark, der seine Arbeit beanstandete, ins Gesicht zu sagen, er solle sich zum Teufel scherenl

Dies war in der damaligen Zeit zwar eine unerhörte Frechheit, aber zur Ehre des Pflasterers muß gesagt werden, daß der Ratsherr Stark von Natur aus ein ewiger Querulant war und zudem nicht gerade den besten Charakter hatte. Zudem hatten andere Herren vom Rathaus gerade die Arbeit so sehr gelobt. Aber was nutzte das? Zilch mußte sich öffentlich entschuldigen.

Reatz hatte inzwischen durch Zusammenarbeit mit den Schönberger Behörden erreicht, daß dem Steinbruchunternehmen Hilz und Gölz alle Lieferungen an Private verboten und nur solche an die Stadt Bensheim erlaubt wurden. So konnten dank der Rührigkeit des Amtsvogts Reatz die Straßen immer mehr ausgebaut werden, und die Darmstädter waren's zufrieden. Als dann endlich um 1840 auch die Chaussee nach Schönberg, die alte sogenannte "Hohe Straß", ausgebaut worden war - wobei allerdings der Blaue Turm dran glauben mußte -, waren die Stadtväter ihre Sorgen los, denn das Gelände der Chaussee war an den Staat übergegangen, der nun für die Unterhaltung sorgen mußte.

Damit soll nun ein kleiner Abschnitt aus der Geschichte des Bensheimer Straßenbaus beendet sein. Und wenn es die Bürger Bensheims und die Stadtverwaltung übers Herz brächten, von nun an die alte Erbkrankheit unserer Stadt mit etwas mehr Fassung zu tragen, wäre der Zweck dieses Aufsatzes erreicht.

 

Der Auszug erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Bensheimer Stadtarchivars Dieter Blüm.

Ergänzt und aktualisiert 08.01.2000